Gisela ohne Vater
Ich heiße Gisela und bin zwölf Jahre alt. Ich lebe mit meiner Mama und meiner Oma und meinem Bruder Walter, der aber gar nicht so ganz mein Bruder ist. Wir haben nicht so viel Geld und Papa ist tot. Das heißt, eigentlich ist er nicht tot, aber er ist weg. Meine Mama hat erzählt, er war Franzose und lebte eine ganze Weile in unserer Nähe. Hier hat er der Mama geholfen und ihr immer wieder was zu essen gebracht und Nylonstrümpfe, die waren nämlich nach dem Krieg ganz schon teuer und keiner konnte sich die leisten.
Mein Vater war auch nicht der Ehemann von Mama, das war nämlich der Heinz und der ist auch der Vater von meinem großen Bruder Walter. Aber er ist im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gestorben. Eigentlich schrecklich, aber manchmal bin ich ganz froh. Warum? Ich habe es erlebt, wie das war, als der Vater von Else, das ist meine beste Freundin, heimgekehrt ist. Keiner hatte damit noch gerechnet, weder die Else, noch ihre drei Schwestern, noch die Mutter. Und da saß er dann plötzlich da, ganz abgemagert und gelb im Gesicht. Vier Zehen waren ihm abgefroren, weil es so kalt gewesen ist in Sibirien. Das liegt in Russland und da musste er nach dem Krieg in einem Lager arbeiten. Das muss schlimm gewesen sein. Er saß immer nur in der Ecke und guckte so vor sich hin. Else und ihre Schwestern mussten immer ruhig sein, nicht mal Radio durften sie hören, da ist er ausgerastet. Sie wüssten gar nicht, wie gut sie es hätten, hat er dann geschrien. Doch haben es Else und ihre Verwandten gar nicht so gut, sie haben oft gar nicht so viel zu essen und Else ist dünn wie eine Bohnenstange.
Deshalb bin ich eigentlich froh, dass ich keinen Vater habe, der aus dem Krieg zurück kommt. Aber irgendwie hätte ich schon gerne einen Vater. Ich lerne jetzt Französisch, vielleicht suche ich ihn ja später, wenn ich etwas älter bin. Ein Foto habe ich von ihm und den Namen und weiß auch, dass er aus einem kleinen Dorf in Südfrankreich kam. Und er hatte braune Locken wie ich, das sagt jedenfalls Mama. Vielleicht suche ich ihn ja später einmal, wenn ich ich groß bin.